...........Das erste deutsche Bücherdorf hat in Mühlbeck/Friedersdorf seit Ende September seine Tore geöffnet.

Als ich in einem Lehrwerk für B1 auf obigen Satz gestoßen bin, musste ich erst einmal stutzen: Hätte es hier nicht korrekterweise heißen müssen: "Das erste deutsche Bücherdorf hat in Mühlbeck/Friedersdorf seit Ende September seine Tore geöffnet."? Die temporale Präposition seit schien da total fehl am Platz zu sein, weil ja kein anhaltender Zustand vorlag. Dann ist mir aber doch eine zweite Lesart eingefallen: "Hat" ist hier in Wahrheit kein Hilfsverb, sondern ein Vollverb, und das Objekt "Tore" ist nicht als dem Partizip "geöffnet" zugehörig anzusehen, sondern eben dem Vollverb "haben" - eine Konstruktion, die sprachhistorisch von größter Bedeutung ist, weil sie auf ältere Sprachzustände verweist, in denen das Perfekt noch nicht grammatikalisiert war:

..............................................Thaz eigut ir gihorit.
..............................................Das habt ihr gehört. (eigentlich: Das besitzt ihr als etwas Gehörtes.)

Meine Frage: Schließt ihr euch meiner Überzeugung an, dass es sich bei "hat ... geöffnet" unmöglich um ein Perfekt handeln kann? Und wäre das Ganze nicht deutlicher, wenn da statt "hat" "hält" stünde?

...........Das erste deutsche Bücherdorf. h ä l t. in Mühlbeck/Friedersdorf seit Ende September seine Tore geöffnet.



2-mal bearbeitet. Zuletzt am 19.03.11 23:12.

Hallo Kostas!

Entschuldige, dass ich auch meine Meinung sage. Diese Variante scheint mir nicht fremd zu sein, weil es in der slow. Sprache auch etwas Ähnliches gibt, und die ist schließlich auch eine indoeuropäische Sprache. In meinem Wörterbuch (für Ausländer) hat das Verb "haben" eine Bedeutung: "es irgendwie haben", mit der Erklärung: verwendet, um j-s Lebensumstände bzw. jetzige Situation zu beschreiben. (Sehr gemütlich habt ihr es hier.) Also adverbial. "Geöffnet" als Partizip Perfekt kann meiner Meinung nach auch sowohl attributiv als auch adverbial gebraucht werden, Und hier ist es - glaube ich - adverbial gebraucht worden.
Mit freundlichen Grüßen
Charlotte



1-mal bearbeitet. Zuletzt am 20.03.11 06:57.

Guten Morgen, Charlotte!

Der attributive oder prädikative Gebrauch eines 2. Partizips ist mir auch nicht fremd, zumal er bereits im Altgriechischen vorkam. Meine Skepsis rührte aber davon her, dass das Partizip geöffnet hier mit dem Verb haben verbunden war, was von der Form her eher an ein Perfekt denken ließ.



2-mal bearbeitet. Zuletzt am 20.03.11 10:06.

Hallo Kostas!

Ich teile völlig Deine Meinung, es wäre angemessener z.B. "sind seine Tore geöffnet" (Zustandspassiv) oder "stehen seine Tore für Besucher offen". Ich dachte zuerst, das seien Homonyme (das Wort stammt aus dem Griechischen, nicht wahr?), aber das stimmt nicht, weil "hat geöffnet" eine Zeitform ist (Perfekt), andererseits ist "hat geöffnet" ein Idiom.
Oder kann das doch als Homonym bezeichnet werden?
Da fällt mir auch gleich mein Problem ein, worauf Du ganz bestimmt antworten kannst.
Es geht um Zustandspassiv. Warum wird das als eine passivische Deklination aufgefasst, warum nicht einfach als ein Prädikativum,
....ist offen, ist geöffnet
....war offen, war geöffnet
ist offen gewesen, ist geöffnet gewesen
"geöffnet" als Partizip ist kein Verb mehr, deshalb benötigt es ein Hilfsverb bei sich, ebenso wie ein Adjektiv.
Mit freundlichen Grüßen
Charlotte

Hallo Kostas!
Ich lese gerade ein Buch "Stilistisches Deutsch" vom Prof. Dr. Karl-Dieter, der völlig Deiner Meinung ist, indem man bei Formulierung darauf achten muss, dass das Verstehen eindeutig wird. Er schreibt, dass die Sprache "das Transportmittel für den Inhalt ist".
"Es gibt keine eindeutigen Urteile, die nur eine bestimmte Ausdruckweise als guten Stil festschreiben. Es hängt immer von vielerlei ab, (...) aber auch von der Erwartungshaltung und damit den Sprachgewohnheiten der Leser(...)"
"Guter Stil heißt, das richtige Wort steht an der richtigen Stelle."
Ferner schreibt er, dass die sprachliche Richtigkeit "nicht nur von grammatischer Korrektheit abhängt, sondern auch von einem individuellen Normgefühl oder einem Normgefühl gesellschaftlicher Gruppen, in denen Text wirken soll. Dabei ist allerdings die grammatische Korrektheit weniger umstritten als die Wortwahl."

Ich denke auch, dass "haben" hier das Vollverb ist und eine abgewandelte Form des Zustandspassivs vorliegt:
"Wir haben geöffnet!", besagt, dass ein Geschäft betretbar ist.
In Verbindung mit den Toren etwas unglücklich, ja. Aber das ist wohl die bücherdörfliche Dichterfreiheit!

@An die Damen

Vielen Dank für eure Meinungsbekundungen!

Ansonsten:

Zitat

Es geht um Zustandspassiv. Warum wird das als eine passivische Deklination aufgefasst, warum nicht einfach als ein Prädikativum,

Na ich denke, weil es von der Struktur her dem Vorgangspassiv, insbesondere der Perfektform ähnelt.